Offener Brief an Rafael Reißer: „So wie es zur Zeit läuft darf es nicht weiter gehen“

Seit Monaten verspricht die Stadt, die unerträgliche Situation an der Darmstädter Ausländerbehörde zu verbessern. Das Video einer betroffenen Darmstädter Pianistin zeigt, dass sich nichts getan hat. Deshalb habe ich einen Offenen Brief an den zuständigen Dezernent geschrieben, der wie schon die vorangegangene Anfrage eine breite Resonanz findet.

Sehr geehrter Herr Reißer,

leider häufen sich die Rückmeldungen, dass die Situation bei der Darmstädter Ausländerbehörde weiterhin unzumutbar ist für diejenigen, deren Aufenthalt, Reisefreiheit oder berufliche Existenz von den Dienstleistungen dieses Amts abhängt. Die „Willkommenskultur“, die in der Stadt gelebt werden soll, wird von Ihrer Behörde konterkariert. Deshalb habe ich mich entschieden, das Problem durch einen offenen Brief an Sie wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Dieses Schreiben erhalten mit gleicher Post auch die anderen Dezernentinnen und Dezernenten, die demokratischen Fraktionen, einige Medien, die Darmstädter ASten und den Ausländerbeirat.

Sie hatten in der Antwort auf meine Kleine Anfrage zu den Bearbeitungsrückständen bei der Ausländerbehörde im Februar dieses Jahres dankenswert offen auf die problematische Personalsituation hingewiesen. Sie kündigten an, dass sich die Lage durch Neueinstellungen für ausgeschiedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie durch die im Haushalt neu geschaffenen Stellen im Laufe der kommenden Monate deutlich verbessern würde. Nach der Kritik der Studierendenvertretungen und der darauf folgenden Medienberichterstattung hatte ich wirklich die Hoffnung, dass Sie und der gesamte Magistrat den Ernst der Lage erkannt haben und ein besonderes Augenmerk darauf legen, die Funktionsfähigkeit der Ausländerbehörde wieder herzustellen und langfristig zu sichern.

Am 26.4. dieses Jahres hat die Darmstädter Pianistin Çağla Gürsoy in einer großen Darmstädter Facebook-Gruppe einen Beitrag eingestellt, in dem sie von ihren aktuellen Erfahrungen mit der Ausländerbehörde berichtet. Sie bemühe sich seit November 2020 um einen Termin, um ihren im Januar 2021 abgelaufenen Aufenthaltstitel zu verlängern. Da sie für ein Konzertexamen im Mai dringend ein Visum benötigte, hat sie vor einigen Wochen ihre Anstrengungen erhöht und immer wieder während der Sprechzeiten verschiedene Nummern in der Behörde angerufen. Wie Sie wissen kann sie wegen der Pandemie-Beschränkungen dort nicht ohne Anmeldung persönlich vorstellig werden, um ihren Antrag abzugeben.

In dem oben genannten Beitrag hat Frau Gürsoy einen ihrer Anrufsversuche per Videoaufnahme dokumentiert. Das Video zeigt, wie sie während der telefonischen Sprechzeit eine Nummer der Ausländerbehörde wählt, und man hört daraufhin die automatische Ansage, die mitteilt, dass gerade keine Sprechzeit stattfinde. Die Ansage verweist auf die (kurzen) Zeiträume, in denen man telefonisch einen Termin vereinbaren kann – der aktuelle, im Handydisplay sichtbare Zeitpunkt liegt mitten darin. Unter dem Beitrag folgen viele Kommentare, die über ähnliche Erfahrungen berichten. Frau Gürsoy versicherte mir auf Nachfrage, dass das Video keine Momentaufnahme darstellt, sondern dass es nur einen von unzähligen Anruf-Versuchen dokumentierte. Auch ihr Rechtsanwalt habe erfolglos versucht, einen Termin zu vereinbaren.

Kurz nach ihrem Facebook-Post hat Frau Gürsoy doch noch auf telefonischem Weg erreicht, dass ihr eine Fiktionsbescheinigung zugeschickt wurde. Das akute individuelle Problem scheint also gelöst zu sein. Ich wende mich aber an Sie, weil das Video anschaulich gemacht hat, dass sich Ihre Behörde ein halbes Jahr nach den personellen Aufstockungen offenbar unverändert in einem desaströsen Zustand befindet.

Sehr geehrter Herr Reißer, mir ist klar, dass unter Pandemiebedingungen die Arbeit und vor allem die Einarbeitung von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Verwaltung schwieriger ist als normalerweise. Ich erwarte nicht, dass die enormen Bearbeitungsrückstände, die Sie in Ihrer Antwort auf meine Kleine Anfrage bestätigt hatten, innerhalb weniger Monate abgearbeitet sind und dass die Wartezeiten bereits jetzt das am Ende anzustrebende Niveau erreicht haben. Der dokumentierte Einzelfall und die vielen bestätigenden Kommentare lassen mich aber befürchten, dass von Ihrem Dezernat überhaupt keine Initiative ausgegangen ist, die Leistungsfähigkeit der Behörde zu erhöhen und bürgerfreundlich zu organisieren.

Es kann doch keine zwei Meinungen darüber geben, dass es das absolute Minimum der Pflichterfüllung einer Behörde ist, offizielle Öffnungszeiten bzw. telefonische Sprechzeiten einzuhalten. Die unerfreulich langen Wartezeiten in der gesamten Angelegenheit wären vermutlich für die Betroffenen eher hinzunehmen, wenn sie wenigstens ohne Probleme die gewünschte Dienstleistung beantragen könnten und ihnen dabei ein realistischer Zeithorizont für die Bearbeitung mitgeteilt würde. Im Fall von Frau Gürsoy hätte man ihr frühzeitig als Übergangslösung die Fiktionsbescheinigung schicken können, was für sie und vermutlich auch hinsichtlich der Belastung der Telefonanlage einen großen Unterschied gemacht hätte.

Dass es Ihrer Behörde offenbar nicht gelingt, wenigstens Erreichbarkeit und einen schnellen orientierenden Erstkontakt herzustellen, scheint mir keine Frage der Personalausstattung oder von Einarbeitungsrückständen zu sein, sondern ein organisatorisches Problem. Ich bitte Sie, die massive Unzufriedenheit der betroffenen Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis und ernst zu nehmen, und die Lösung der Probleme zur Chefsache zu machen. Sorgen Sie dafür, dass die Arbeitsabläufe so gestaltet und nötigenfalls mit technischen Lösungen unterstützt werden, dass die Behörde ihre Aufgaben erfüllen und den Menschen endlich angemessen begegnet. Wenn diese Umorganisation mit „Bordmitteln“ nicht zu realisieren ist, dann müssen Sie externe Beratung hinzuziehen. So wie es zur Zeit läuft darf es nicht weiter gehen.

Sie müssen damit rechnen, dass ich nicht locker lassen werde, bis spürbare Fortschritte bei der Qualität der Dienstleistungen in der Ausländerbehörde zu verzeichnen sind.

Mit freundlichen Grüßen
Uli Franke
Stadtverordneter

Darmstadt: Wieder Aufregung um Ausländeramt (FR, 11.5.2021)