Rede in der Stavo am 19.5.2022 zum Dringlichkeitsantrag „Freiheit für Marlene Förster und Matej Kavcic“
Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
seit dem 20. April sind die frühere Darmstädterin Marlene Förster und ihr Journalisten-Kollege Matej Kavčič nun im Irak inhaftiert. Die beiden sind bei ihrem mutigen Projekt, Informationen über die bedrängte ezidische Gesellschaft an die Öffentlichkeit zu bringen, nun selber in Bedrängnis geraten.
Die Rahmenbedingungen der Haft sind alles andere als rechtsstaatlich: Den ersten Besuch der Botschaft nach 8 Tagen musste Marlene sich durch einen Hungerstreik erkämpfen. Während drei langer Wochen wurde kein Kontakt zu den Angehörigen gewährt, und auch die Hinzuziehung eines Anwalts war erst nach drei Wochen hinter Gittern möglich. Was den beiden vorgeworfen wird wurde erst vor wenigen Tagen bekannt:
Es geht um Spionage und Verstoß gegen den Aufenthaltstitel.
Das sind aus unserer Sicht vorgeschobene Vorwürfe, die der Einschüchterung der beiden Inhaftierten und anderer kritischer Journalistinnen und Journalisten dienen sollen. Der irakische Staat will den Preis hochsetzen für kritische Berichterstattung aus einer Region, deren Kultur und gesellschaftliche Strukturen seit Jahrhunderten unter Druck sind. In dieser Region finden auch ganz aktuell wieder Angriffe statt, sowohl von irakischer als auch von türkischer Seite.
In Deutschland gibt es eine breite Welle der Solidarität: an vielen Orten bilden sich Unterstützungskomitees, insbesondere in Darmstadt und Marburg, wo Marlene gelebt und politisch gewirkt hat. In Fußballstadien wurde auf Transparenten die Freilassung der beiden gefordert, ebenso tun dies journalistische Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ oder die dju, und in einer Online-Petition haben sich mittlerweile mehr als 50.000 Menschen hinter dieser Forderung versammelt.
Bei der Kundgebung in Darmstadt vor einer Woche wurde kritisiert, dass die Lokalpolitik bisher zu der Inhaftierung von Marlene und Matej geschwiegen hat. Das haben wir zum Anlass genommen, das Thema in unser Stadtparlament einzubringen und dabei die Hauptforderung der Unterstützungsbewegung aufzugreifen: Freiheit für Marlene Förster und Matej Kavcic.
Das Ringen um eine gemeinsame Erklärung hat gezeigt, dass die Fraktionen durchaus unterschiedliche Heransgehensweisen und verschiedene Einschätzungen zu den Hintergründen haben.
Ich glaube, uns eint zunächst die menschliche Solidarität mit einer in Darmstadt geborenen und aufgewachsenen Persönlichkeit, die vielen bekannt ist aus ihrer Zeit im Stadtschüler*innenrat, im TU-AStA oder auch vorher aus der Jugend in der Petrusgemeinde in Bessungen. Wir wollen alle unser Mitgefühl zeigen mit den Angehörigen, mit den Freundinnen und Freunden, die seit so langer Zeit im Ungewissen sind, wie es Marlene geht und wann sie endlich wieder nach Hause kommen wird.
Zweitens eint uns auch das Eintreten für die Pressefreiheit, die natürlich unabhängig davon gilt, mit welchem Ziel journalistisch gearbeitet wird, welche Sympathien hinter einer Reportage stehen und mit welchen bündnispolitischen Interessen diese sich vielleicht nicht verträgt.
Für uns gibt es noch eine dritte Dimension, aus der sich offenbar die politischen Differenzen mit anderen Fraktionen speisen: Wir haben einen positiven Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in der syrischen Region Rojava und auch im benachbarten ezidischen Siedlungsgebiet.
Dort haben die Menschen nach extremen, auf ihre Vernichtung zielenden Angriffen insbesondere durch den sogenannten IS lokale basisdemokratische Gemeinschaften gebildet. Sie kämpfen für eine begrenzte Autonomie von den autoritären Staaten, auf deren Gebiet sie leben und die sie damals nicht gegen die Angriffe schützen konnten oder wollten. Sie wollen die Unterdrückung der Frauen beenden und solidarische Wirtschaftsformen entwickeln, um ein besseres, freieres Leben für alle zu ermöglichen.
Diese Gemeinschaften können ein Vorbild sein, den Nahen Osten aus den gesellschaftlichen Verkrustungen zu lösen und dem Griff der Autokraten zu entziehen.
Dies zu erleben, zu unterstützen und bekannt zu machen war und ist das große Projekt von Marlene Förster und Matej Kavcic. In dieses Projekt haben sie ihre Energie gesteckt und dafür sind sie ein hohes Risiko eingegangen. Dafür haben wir sehr viel Sympathie, und wir finden, die beiden haben dafür allergrößten Respekt verdient.
Weil die beiden sich für eine gute Sache einsetzen, hätten wir das gerne auch in der Resolution zumindest angedeutet. Weil wir dafür keine Mehrheit finden konnten, müssen wir uns damit zufrieden geben, diese Ansicht nun in die Debatte einzubringen.
Es ist übrigens ein positiver Nebeneffekt der Inhaftierung, dass die bundesweite Solidaritätswelle den Blick einer breiten Öffentlichkeit auf die Vorgänge in Sinjar lenkt. Das ist der Preis, den der irakische Staat für sein Agieren zu zahlen hat.
Ich hoffe, dass wir mit dieser Resolution den Preis noch ein bisschen weiter in die Höhe treiben können, und wünsche mir eine breite Zustimmung zu dem Kompromiss, auf den sich die Fraktionen geeinigt haben.
Und schließlich möchte ich allen danken, die sich um den gefundenen Kompromiss bemüht haben. Ich bin froh, dass wir uns für dieses Thema nicht über Antrag und Gegenantrag auseinandersetzen müssen, sondern dass wir – bei allen Differenzen – am Ende mit einer Stimme sprechen können.