Videoüberwachung: „Sie wollen vorhandene, aber kaum begründete Ängste nutzen“

Rede zur Videoüberwachung auf dem Luisenplatz am 18.6.2019 in der StaVo

Am 18.6.2019 legte uns der Magistrat eine Vorlage zur Einführung der präventiven Videoüberwachung auf dem Luisenplatz zur Beschlussfassung vor. Mit einer Mehrheit von Grünen (ohne die Piratin, aber mit Jürgen Barth), CDU, FDP und AfD wurde die Vorlage gebilligt. Mit der unten folgenden Rede ließ sich das leider nicht verhindern.

Am 20.6. berichtete das Darmstädter Echo (leider kostenpflichtig). In der Unterüberschrift heißt es: „Die Linke will mehr Polizei“ und im Artikel wird auch nur dieser Aspekt wiedergegeben. Die Forderung hört sich – vor allem in der verkürzten Form – vielleicht etwas merkwürdig an. Gemeint ist die Kommunalpolizei. Ich halte es in der Tat für richtig, subjektive Angstgefühle nicht vom Tisch zu wischen, sondern mit einer ausgewogenen Präsenz von Sicherheitspersonal zu reagieren. Appelliert habe ich auch an die Zivilcourage der anderen Passantinnen und Passanten, die unter den Augen von Kameras möglicherweise weniger dringlich erscheint – nach dem Motto „es wird schon jemand kommen…“. Aber lest selbst:

Sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin,
Kolleginnen und Kollegen,

ich möchte meinen Beitrag einleiten mit einem Zitat aus dem aktuellen Programm der Bundes-Grünen, Abschnitt Abkehr von Massenüberwachung: „Flächendeckende Videoüberwachung trifft unterschiedslos alle Bürger*innen. Ohne konkrete Gefahr oder Verdacht wird flächendeckend beobachtet. Das bringt für echte Sicherheit nichts und ist mit einer freiheitlichen Demokratie nicht vereinbar. Die historische Erfahrung lehrt, dass Freiheit in kleinen Schritten stirbt.“

Mit der in dieser abenteuerlichen Vorlage angestrebten Videoüberwachung soll genau so ein kleiner Schritt getan werden.

Abenteuer #1: Überwachung gegen Ängste statt gegen reale Gefahren

Wir leben laut Kriminalstatistik in der mit Abstand sichersten kreisfreien Stadt Hessens. Die Straßenkriminalität ist von 2017 auf 2018 um 10% zurückgegangen. Es ist anzunehmen, dass dies an der im Frühjahr 2018 eröffneten Stadtwache und der Präsenz der Kommunalpolizei auf dem Luisenplatz zu tun hat.

Wir haben weder in DA noch auf dem Luisenplatz eine krisenhafte Situation, die einen gravierenden Eingriff in die Freiheitsrechte notwendig machen würde.

Polizeipräsident Bernhard Lammel wurde unlängst zitiert: „Die gefühlte Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger steht leider oft in keinem Verhältnis zu den objektiven Zahlen. Immer wieder ist von Angst-Räumen zu hören.“

Mir erscheint Ihr Hantieren mit der Kriminalstatistik vorgeschoben. Sie machen das, weil die Verbessung des Sicherheitsgefühls kein juristisch akzeptabler Zweck ist.

Sie wollen vorhandene, aber kaum begründete Ängste nutzen, um politisch im law-and-order-Milieu zu punkten und um staatliche Kontrollmöglichkeiten auszuweiten. Dabei bleibt das Freiheitsrecht der informationellen Selbstbestimmung auf der Strecke.

Wenn man sich auf die Logik der gefühlten Sicherheit einlässt, ist die Ausweitung der Maßnahme vorprogrammiert. Wer sich nur unter Kameras sicher fühlt, wird bald die Überwachung weiterer Straßen und Plätze fordern.

Es ist doch völlig klar: dieses Projekt ist nur der Anfang!

Abenteuer #2: Der Luisenplatz als Kriminalitätsschwerpunkt

Als Kriterium für die Eignung der Überwachungsmaßnahme nennen Sie in der Vorlage die Verhinderung von Straftaten, ohne dass sie einfach nur vom überwachten Ort verdrängt werden.

Damit sind Drogendelikte ausgeschlossen, weil Verdrängung anzunehmen ist – das stellen Sie ja in der Vorlage selber fest.

Weiterhin nennen Sie erstaunlich viele Fälle von Körperverletzung. Das ist ein gravierendes Delikt. Aber eine Schlägerei oder Bedrohung ist meist nicht geplant, sie entsteht im Affekt, aus einer spontanen Situation. Sie findet auf dem Luisenplatz zumindest tagsüber vor Zeugen statt, und wohl auf fast immer unter Bekannten. Hier ist keine zusätzliche präventive Wirkung von Videoüberwachung zu erwarten. Und die Vorstellung, man könne damit einen Terrorangriff verhindern, ist so bizarr, dass ich das nicht weiter kommentieren möchte.

Was bleibt übrig?

Alle 10 Tage ein Diebstahl, der unter Kameras vielleicht unterbleibt, vielleicht aber auch an einem anderen Ort stattfindet.

Eine Sachbeschädigung pro Quartal, die vielleicht unterbleibt, vielleicht aber auch von unerkanntem Täter trotzdem durchgeführt wird.

Wem das reicht, um Videoüberwachung zu befürworten, für den muss das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen sehr niedrigen Rang einnehmen!

Abenteuer #3: Mangelhafte Entscheidungsgrundlage

Die Vorlage lässt Fragen von grundsätzlichem Charakter offen: wir haben

  • keine Information über laufende Kosten und den Personalaufwand.
  • keine Klarheit über die angestrebte technische Möglichkeiten: soll Live-Überwachung stattfinden? Wenn ja, in welchem Umfang und durch wen? Ist Datenverarbeitung wie Gesichtserkennung oder Verhaltensanalyse vorgesehen?

Ich könnte unter Umständen akzeptieren, dass Videoaufnahmen gespeichert werden zum Abruf bei Ermittlungen nach einer Anzeige, nicht aber die permanente Beobachtung sämtlichen Geschehens im öffentlichen Raum!

Ich fürchte allerdings, dass Letzteres geplant ist.

Unabhängig von den grundsätzlichen Bedenken werden wir Ihnen keine Blankovollmacht ausstellen, die diese Fragen zukünftiger Klärung überlässt.

Alternativen

Auch DIE LINKE will Straftaten verhindern und Ängste nehmen.

Längerfristig bedeutet dass, dass wir Armut, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit von Menschen verringern müssen. In einer solidarischeren Gesellschaft wird es auch weniger Straftaten geben.

Unmittelbar wollen wir Menschen statt Apparate zum Schutz gegen Straftaten und zur Beseitigung von Ängsten einsetzen.

Dafür sind wir bereit einen Preis zu zahlen – aber in Form von Gehältern anstatt von Grundrechten.

Wir sind einverstanden, das Sicherheitsgefühl zu stärken durch die Präsenz der Kommunalpolizei auf dem Luisenplatz. Diese ist auch ansprechbar bei vielen weiteren Fragen und Problemen. Sie kann unterhalb der Schwelle von Straftaten eingreifen und Konflikte moderieren. Und sie ist auch nicht teurer als die Überwachungstechnik.

Auch die Aufmerksamkeit der Mitmenschen auf einem bevölkerten Ort wie dem Luisenplatz ist wichtig. Sie können sofort eingreifen und Vorfälle mit Smartphone dokumentieren, so wie das unlängst auch geschehen ist und berichtet wurde. Videokameras können bewirken, dass diese unmittelbare Verantwortung nicht mehr so stark wahrgenommen und an die anonymen Beobachter delegiert wird.

Zum Abschluss zitiere ich nochmal aus dem Programm der Grünen:

Wir wenden uns entschieden dagegen, die Bedrohungslagen zu missbrauchen, um Ängste zu schüren oder mühsam erkämpfte Freiheitsrechte abzubauen.“

In Darmstadt müssen sich offenbar andere für diese Rechte einsetzen!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!